Sarajevo
Vor dem Krieg ist nach dem KriegVon Markus Bickel, Sarajevo31. Oktober 2009 In Karadzics altem Hinterhof stehen ein paar junge Männer und schlagen die Zeit tot. Damir hat gerade eine Schachtel Zigaretten besorgt, freudig begrüßt von seinen Kumpels. Viel mehr Abwechslung für die Gelegenheitsarbeiter und Arbeitslosen, die sich vor den Garagen versammelt haben, gibt es nicht. Aus einer Mülltonne springt ein Kätzchen, Rauch steigt auf aus den Schornsteinen des Hauses, in dem einst der spätere Präsident der bosnisch-serbischen Republika Srpska wohnte.
Kurz vor Kriegsbeginn 1992 zog Radovan Karadzic hier weg und schlug sein Hauptquartier im nahe gelegenen „Holiday Inn“ auf, dem gelb leuchtenden Hotelblock, der für die Olympischen Winterspiele 1984 gebaut wurde. Von dort ging es weiter in die Berge von Pale - ein Abschied für immer aus der Stadt, in der ihm der Aufstieg vom montenegrinischen Landjungen zum Dichter und Psychiater gelang. Von April 1992 bis Dezember 1995 ließ er Sarajevo belagern, über tausend Tage lang, mehr als 10.000 Menschen wurden dabei getötet. „Verbrechen verübt mit dem Ziel, durch Scharfschützen- und Granatbeschuss Terror unter der Zivilbevölkerung Sarajevos zu verbreiten“, wirft ihm das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag deshalb vor.
Früh erwachsen - und doch nicht groß geworden
Zurück blieben die Amirs, Edins und Gorans: Kinder und Jugendliche, als Karadzics Truppen die in einem Tal gelegene Stadt einkesselten - früh zum Erwachsensein gezwungen, und doch nie richtig groß geworden. „Stillgestanden!“ ruft Elvedin Kominlija zum Spaß in die Runde. Die anderen lachen. Zu Beginn der Belagerung stieg der Vater einer pubertierenden Tochter schnell zum Distriktkommandierenden auf, zwei der Versammelten waren ihm unterstellt; erst als die bosnische Armee ihre Reihen straffer organisierte, wurde er zum Hauptmann degradiert. Mit Gelegenheitsjobs versucht Kominlija nun die Familie über Wasser zu halten, seine Frau arbeitet für umgerechnet 250 Euro im Monat als Kassiererin in einem Supermarkt. „Der nächste Krieg kommt bestimmt“, sagt er, 14 Jahre nach Ende der Kämpfe.
Ein Satz, der öfter fällt dieser Tage in Sarajevo. Die Stimmung ist schlecht, für ein bisschen Aufhellung sorgte zuletzt nur die Qualifikation für die Play Offs zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika nächstes Jahr. Die Hoffnung auf eine rasche Annäherung an die Europäische Union aber, wie sie den einstigen jugoslawischen Schwesterrepubliken Slowenien und Kroatien gelang, ist dahin.
Auch im Büro des Hohen Repräsentanten auf der anderen Seite des Flusses Miljacka, der hier die Front bildete zwischen muslimischen und bosnisch-serbischen Einheiten, herrscht Ernüchterung.
Ein paar Schneereste liegen auf der Brücke, die hinüber zu dem weißen würfelförmigen Gebäude führt, der Winter kam früh dieses Jahr. „Verglichen mit 1996, ist die Lage jetzt viel, viel besser, aber wir erleben gerade die schlimmste Zeit der vergangenen drei Jahre mit den höchsten Spannungen“, sagt Valentin Inzko, seit März Leiter der bei den Friedensverhandlungen von Dayton 1995 geschaffenen Protektoratsbehörde.
Keine Eigenverantwortung
Auf einem Häuserdach im Blickfeld des Österreichers wirbt eine Bank mit dem Spruch: „Wir werden die ersten sein.“ Dem aber ist nicht so, selbst Serbien hat die einstige Tito-Republik auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft abgehängt, bis vergangenes Jahr galt alle Aufmerksamkeit der Balkan-Politiker in Brüssel dem Kosovo. Zwar hatte schon der zweite internationale Verwalter, Wolfgang Petritsch, auf die Eigenverantwortung der Bosnier gesetzt - und unter dem Stichwort „Ownership“ für ein baldiges Ende der Protektoratsherrschaft plädiert. Auch der Deutsche Christian Schwarz-Schilling, der wegen mangelnder Unterstützung aus Brüssel und Berlin seinen Job 2007 quittierte, vertraute zunächst in die Einsicht der bosnischen Nachkriegspolitiker, nachdem er die harte Hand seines Vorgängers, des Briten Paddy Ashdown, zuvor als entmündigend kritisiert hatte.
Doch die lokalen Akteure machten der internationalen Gemeinschaft immer wieder einen Strich durch die Rechnung: Nicht das Wohl des Gesamtstaates stellen sie an erste Stelle, sondern das Bedienen ethnonationalistischer Vorurteile, daran hat sich seit dem Amtsantritt des ersten „High Rep“ 1995, des Schweden Carl Bildt, wenig geändert. Erst vergangene Woche scheiterte wieder einmal ein von der EU initiierter Versuch, die beiden als Entitäten bezeichneten Teilstaaten - neben der von Karadzic gegründeten Republika Srpska ist das die in zehn Kantone untergliederte muslimisch-kroatische Föderation - zugunsten des Gesamtsstaats zu schwächen.
So laufen heute immer noch alle Fäden im Büro Inzkos zusammen, die 1997 auf einer Dayton-Nachfolgekonferenz verabschiedeten „Bonner Befugnisse“ erlauben es ihm nicht nur, Dekrete zu erlassen, sondern auch, Politiker zu entlassen.. „Manche tun alles, um den Übergang zu erschweren“, seuft der Diplomat, der fließend Serbokroatisch spricht und unmittelbar nach Kriegsende die österreichische Botschaft in Sarajevo aufbaute.
Kampfansage an die Nationalisten
Pedja Kojovic zählt sicherlich nicht dazu. 2008 gründete der Journalist gemeinsam mit dem Oskar-Preisträger Dani Tanovic („Niemandsland“) und dem Regisseur Dino Mustefic die Partei „Nasa Stranka“ („Unsere Partei“), die bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr überraschend den Sprung in viele Stadtparlamente schaffte und allein in Sarajevo 17 Prozent erzielte. Er spielt an seinem Iphone herum, der Kellner in einem der vielen westlich gestylten Restaurants der Innenstadt serviert Espresso. „Wenn man wirklich Veränderung will, muss man sich Feinde machen“, sagt der 1965 geborene Kojovic, der als Kriegsreporter nicht nur aus Bosnien, sondern auch aus dem Irak und anderen Konfliktherden berichtete. 2007 kehrte er nach mehreren Jahren im Reuters-Büro in Washington D.C. zurück nach Sarajevo.
Ihre Kampfansage richtete das Trio nicht nur an die etablierten Parteien, sondern auch an die in unzähligen Nichtregierungsorganisationen zersplitterte Zivilgesellschaft. Zu lange habe diese dem Treiben der muslimischen, kroatischen und serbischen Nationalisten zugesehen, ohne selbst die Machtfrage zu stellen. „Wir hingegen wollen die Macht - nicht nur in den Städten, sondern auch auf Bundesebene“, sagt Kojovic, der hofft, bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr eine Rolle ähnlich der deutschen Grünen als Mehrheitsbeschafferin zu spielen. „Wenn wir 120000 Stimmen gewinnen, können wir gemeinsam mit den Sozialdemokraten eine Mehrheit bilden und die Nationalisten aus der Regierung drängen.“
Ein kurzer Weg zum Krieg
Die Sorge allerdings, dass es anders kommen könnte, lässt Kojovic nicht los. „Alles, was uns von einem neuen Krieg trennt, ist ein Zwischenfall mit zwei Panzerfäusten und zwei Schulbussen“, sagt der Bosnier, der wie ein Rockstar, nicht wie ein Politiker aussieht. Wie groß der Hass auf alles Nichtkoforme in der einst als „Jerusalem des Balkan“ gepriesenen bosnischen Hauptstadt ist, bekam er vor einem Jahr selbst zu spüren. Im September 2008 gingen muslimische Wahabiten und Hooligans gemeinsam auf die Teilnehmer eines Schwulen-Festivals los - Kojovic wurde zusammengeschlagen, „Allahu Akbar“ und „Tötet die Schwulen!“ riefen die Randalierer.
Andersdenkende haben es schwer in der bosnischen Hauptstadt, in der inzwischen vier von fünf Einwohnern Muslime sind - vor dem Krieg stellten Kroaten und Serben immerhin noch fast die Hälfte der 350000 Einwohner. Istok Bratic, ein junger Modedesigner, will vom Mythos des einstigen „Balkan-Jerusalems“ dennoch nichts wissen. „Ich glaube, das ist eine Nachkriegserfindung“, sagt er im kleinen Arbeitsraum seines Schneiders in der osmanisch geprägten Altstadt Bascarsija von Sarajevo. „Wer die ganze Zeit über seine multikulturelle Identität reden muss, der hat ein Problem damit.“
Was Bratic unterscheidet von den Damirs und Gorans, die in Karadzics altem Hinterhof ihre Zigaretten rauchen, ist schnell auf ein Wort gebracht: ein Visum für den Westen. Um auf dem neuesten Stand der Mode zu bleiben, verbringt der in Titos Todesjahr 1980 Geborene immer wieder Monate in London - „eine Stadt, wo Dissidenz und Offenheit als Tugenden gelten“, wie er sagt.
Auch der einstige Soldat Kominlija kennt Europa, nach dem Krieg lebte er in Deutschland, ehe er 2002 nach Bosnien zurückkehrte. Nun will er bleiben, überlegt aber, seine Frau und seine Tochter zu Verwandten bei Frankfurt zu schicken. „Was habe ich ihnen hier zu bieten?“, fragt er frustriert. Warten darauf, bis Bosnien eines Tages in die EU aufgenommen wird, will er jedenfalls nicht.